Riedlingen sz
Marita und Rudolf Lehn haben den Schülern der Vorbereitungsklasse (VKL) Physik geboten. Neben der Vermittlung von Grundkenntnissen ist ihnen wichtig, die Naturwissenschaft als Integrationshilfe, als Förderung des Selbstvertrauens, als Abwechslung im eingeschränkten Schulalltag und als interessantes Schulfach zu zeigen. An vier Vormittagen waren sie mit den Physik-Koffern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) in der Joseph-Christian-Gemeinschaftsschule. Am Freitag zum vorerst letzten Mal.
Begeistert begrüßen die sieben 13- bis 16 Jährigen – zwei Mädchen und fünf Buben aus dem Irak, aus Syrien, Serbien, Rumänien, Mazedonien – das Ehepaar Lehn. Gespannt warten die Schüler, bis die Physik-Koffer geöffnet sind und die ersten Kabel und Lämpchen ausgeteilt werden. „Das mit den Versuchen machen sie richtig gern“, sagt die Klassenlehrerin Andrea Beshay. Sie ist in Riedlingen geboren, lebte lange Jahre in Ägypten und kann ihren Schülern in besonderen Situationen mit ihrem Arabisch aushelfen.
Der erste Versuch: Zu zweit sollen sie als Wiederholung eines Dezember-Versuchs ein Glühbirnchen mit Batterie und Kabel zum Leuchten bringen. „Fertig!“, rufen Mohamed und Efe nach kurzer Zeit als Erste. Währenddessen malt Rudolf Lehn die Skizze des Stromkreislaufs an die Tafel, schreibt die Fachbegriffe dazu. „Wir fahren den Weg des Stroms nach“, führt Marita Lehn weiter. Gemeinsam formulieren sie und die sehr aufmerksamen Schüler in ganzen Sätzen den Verlauf des Stromes und die Möglichkeiten, den Kreislauf zu unterbrechen. Sie lernen die Wörter Steckdose und Lichtschalter – und bauen solch ein Minischalterchen in ihren Stromkreis ein.
Ein LED-Lämpchen soll nun dazugeschaltet werden. Davor steht die Wiederholung, was zum Funktionieren gebraucht wird. Die Aha-Effekte sind riesig. Schüler und Lehrer freuen sich. „Beim Experimentieren sind die Sprachkenntnisse nicht so wichtig“, sagt Rudolf Lehn. Die Schüler arbeiten konzentriert und wollen herausfinden, warum die eine Lampe heller brennt als die andere. Auch am Formulieren der Probleme, der Erklärungen versuchen sie sich. Eines der Mädchen entdeckt das Problem. Alle staunen. „Du bist eine echte Forscherin“, lobt Marita Lehn.
Mit weiteren Klemmkabeln und Birnchen, der Erklärung von Marita Lehn, der Tafelskizze von Rudolf Lehn machen sich die Schüler an den nächsten Versuch. Die beiden Mädchen Reem und Amalia schaffen es als Erste und Andrija findet eine zweite Möglichkeit. Josef und Karam wechseln fließend von den deutschen Fachbegriffen ins Arabische. Mit gegenseitiger Hilfe kommen am Ende alle zum Erfolg.
„Das ganze Leben ist Physik“, sagt Marita Lehn schmunzelnd. Sie und ihr Ehemann, beide pensionierte Lehrer, sehen die Naturwissenschaft in dem Zusammenhang hier auch als Transporteur für die neue Sprache. Und Martin Romer, der Rektor der Joseph-Christian-Gemeinschaftsschule, ergänzt wie wichtig es sei, dass die Kinder agieren und nicht passiv sind, dass sie neben ihrem Sprachunterricht weitere Unterrichtsfächer haben können. Auch das Staunen über Unerwartetes sei ein Aspekt des neuen Unterrichts. Das Ehepaar Lehn – er als ehemaliger Leiter des Schülerforschungszentrums in Bad Saulgau und sie bis vor kurzem Grundschullehrerin in Ertingen – war auf ihn zugekommen um diese Unterrichtssequenzen in der VKL anzubieten. Parallel dazu führen sie das Projekt bei Flüchtlingskindern in Ochsenhausen durch. Sie loben, wie begeistert die Kinder sowohl in Riedlingen wie in Ochsenhausen bei der Sache seien: ein angenehmes Arbeiten. Zeigen, Sprechen, Schreiben, Lesen, Ausführen spiele in der Naturwissenschaft eine große Rolle. Sprache könne auch so, mit relativ einfachen Mitteln, vermittelt und eingeübt werden.
Hintergrund
Ein Projekt der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) der Georg-August-Universität Göttingen ist „Physik für Flüchtlinge“. Eigentlich konzipiert, um Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften spielerisch die Naturwissenschaften näher zu bringen, wird an der Joseph-Christian-Gemeinschaftsschule in Riedlingen die Idee in der Vorbereitungsklasse für Schüler ohne Deutschkenntnisse weitergeführt.
Der DPG ist es wichtig, zu zeigen, dass physikalische Phänomene für alle Menschen gleich sind, dass Physik spannend, unterhaltsam und lehrreich ist. „Die DPG verpflichtet sich und ihre Mitglieder, für Freiheit, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Würde in der Wissenschaft einzutreten und sich dessen bewusst zu sein, dass die in der Wissenschaft Tätigen für die Gestaltung des gesamten menschlichen Lebens in besonders hohem Maße verantwortlich sind“, ist das Leitbild formuliert. Bis 1845 reicht die Geschichte der DPG zurück und sie ist mit weltweit 62 000 Mitgliedern die größte physikalische Fachgesellschaft. Max Planck war mehrfach Direktor der Gesellschaft, Albert Einstein von 1916 bis 1918.
Unterschrift Foto: Mit viel Engagement bringen Marita und Rudolf Lehn den Kindern die Physik näher. Bild: Eva Winkhart, ©Schwäbische Zeitung