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    Entwicklungshelfer Sid Johan Peruvemba über Europas Verantwortung in der Flüchtlingskrise

    Überregional, 25.08.2017 (sz, ©Schwäbische Zeitung)

    Stuttgart sz
    Weltweit sind 22,5 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, weitere 40 Millionen haben ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Die Organisation Malteser International leistet seit 2012 Flüchtlingshilfe, unter anderem im Nahen Osten und in Afrika. Sid Johan Peruvemba (51, Foto: privat) ist stellvertretender Chef des deutschen Zweiges. Im Gespräch mit Katja Korf fordert er, Menschen in Entwicklungsländern direkt zu fördern, statt nur in große Bauprojekte zu investieren.

    Nach Deutschland kommen deutlich weniger Flüchtlinge als in den Vorjahren. Dadurch entsteht der Eindruck, die Situation habe sich weltweit entschärft.

    Das mag aus deutscher Sicht so sein. Der Problemdruck ist vermeintlich gesunken, weil weniger Menschen ins Land kommen. Weltweit trifft das jedoch absolut nicht zu. Die Fluchtbewegungen in Afrika sind dramatisch. Dort sind weltweit die meisten Menschen auf der Flucht vor Konflikten und Gewalt – aktuell mindestens 2,5 Millionen. In vielen Regionen liegen Krisenherde: Kamerun, Nigeria, Zentralafrikanische Republik, Sudan, Äthiopien. Und die Liste geht noch weiter.

    Derzeit steht Libyen im Fokus der öffentlichen Debatte. Von dort versuchen zahlreiche Menschen aus Afrika, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Was halten Sie davon, dort sogenannte Aufnahmezentren zu errichten?

    Das ist ein verheerender Vorschlag. Libyen ist ein total fragiler Staat, der zu einem Flüchtlingsbahnhof negativster Ausprägung geworden ist. Wenn wir in Deutschland schon große Mühe haben, Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen – wie soll das in Libyen gelingen?

    Was wäre die Alternative?

    Eindeutig schutzbedürftige Menschen müssen wir nach wie vor in der EU aufnehmen und auf die Mitgliedsstaaten verteilen. Dass das derzeit nicht gelingt, ist politisches Versagen der Institution EU. Denn es ist ja nicht einem oder wenigen Staaten zuzumuten, auf Dauer alle Flüchtlinge aufzunehmen. Zwar wäre Geld da, um sie zu alimentieren, aber was dann – viele werden sich nicht in den Arbeitsmarkt integrieren können. Solange sich die EU-Mitglieder hier nicht bewegen, wird es ganz schwer, humane Lösungen zu finden.

    Welche Gefahren nehmen Menschen in Kauf, wenn sie aus ihren Heimatländern fliehen?

    Es dauert oft drei Monate und länger, allein Libyen zu erreichen. Zweifellos erleiden viele Hunger, Durst und Gewalt bis hin zu Folter und Vergewaltigung. Aber selbst nach Libyen kommen die meisten wohl nicht zum Nulltarif. Es kursieren Summen bis zu 5000 US-Dollar, die Menschen an Schlepper und andere Profiteure entlang der Strecke zahlen müssen. Wer aber über solche Barmittel verfügt, der zählt in Afrika nicht zu den Allerärmsten. Ich persönlich kann mir daher oft nicht erklären, warum man diese Strapazen auf sich nimmt. Aber vielleicht ist das jenseits unserer Vorstellungskraft. Dafür bräuchten wir eine genaue Analyse, um diese Mechanismen zu klären. Um das zu verstehen, müssen wir uns stärker darauf konzentrieren, wie Menschen leben, nicht, wie sie sterben.

    Wir in Deutschland diskutieren über Obergrenzen von 200 000 Menschen, die wir pro Jahr aufnehmen wollen. In vielen Staaten in Afrika und dem Nahen Osten leben viel mehr Flüchtlinge. Ist unsere Debatte scheinheilig?

    Man muss fair bleiben. Es gibt Länder, die Gewaltiges leisten. Wir dürfen aber nicht vergessen: Es sind nicht nur humanitäre Gründe, aus denen Länder Flüchtlinge aufnehmen. Einige Staaten profitieren durchaus von Flüchtlingen. In Nord-uganda leben 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Südsudan, weitgehend gut integriert. Das funktioniert dort hervorragend – auch, weil es historisch gewachsene Beziehungen zwischen Sudan und Uganda gibt, zwischen Familien und Handelspartnern. Außerdem bringen die Südsudanesen oft Geld mit, kurbeln die Wirtschaft an im relativ armen Nord uganda. Oder Libanon. Dort leben eine Million Flüchtlinge und Libanon erhält dafür internationale Hilfe. Ich halte wenig von humanitärer Mathematik nach dem Motto: „Würde Deutschland so viele Menschen aufnehmen wie Libanon, müssten wir 20 Millionen Menschen versorgen.“ Das vernachlässigt den sozialen und historischen Kontext. Und: Oft sind Menschen besser dran, wenn sie nahe ihrer Heimat leben können, statt nach Deutschland zu fliehen.

    Warum?

    Stellen wir uns vor, wir würden in Deutschland verfolgt. In Frankreich oder Belgien hätten wir innerhalb eines Jahres sicher schneller Fuß gefasst als in Marokko oder Kenia. Monate, oft Jahre in einer Notunterkunft in Deutschland zu verbringen, ohne Beschäftigung, ohne Perspektive, ohne Familie – das entspricht jedenfalls nicht meinem Bild von einem menschenwürdigen Leben.

    Das alles spricht ja dafür, dass es sinnvoll ist, Fluchtursachen zu bekämpfen. Das fordern jetzt viele Politiker. Aber kommt das nicht zu spät?

    Staatliche Entwicklungszusammenarbeit gibt es seit Jahrzehnten. Sie hat Großes geleistet, aber auch große Fehler gemacht. Dennoch brauchen wir sie. Es dauert eben, bis sie wirkt. Schon in einem gut organisierten, finanzstarken Land wie unserem dauert es lange, bis eine Straße oder ein neuer Bahnhof gebaut sind. In Staaten in Afrika geht das nicht unbedingt schneller. Mit dem Versprechen, etwas für die Infrastruktur zu tun, hält man niemanden von der Flucht ab, der dazu bereits fest entschlossen ist.

    Was kann man sonst tun?

    Wir müssen zunächst unterscheiden zwischen Flucht und Migration. Wer flieht, will Gewalt und Verfolgung entkommen. Andere Menschen aber verlassen ihre Heimat, weil sie für sich keine Zukunft sehen. Sie machen sich auf den Weg, um irgendwo Geld zu verdienen und damit ihre Familien daheim zu versorgen. Das ist ja sehr nachvollziehbar. Ich bin davon überzeugt: Nur wirtschaftliche Entwicklung hilft gegen Migrationsbewegungen. Wir stecken so viel Geld in Entwicklungszusammenarbeit. Man sollte überlegen, Teile davon vorübergehend direkt an Betroffene zu geben – zum Beispiel als Haushaltsgeld von 30 Euro im Monat, das vermutlich viele Migrationsbereite unmittelbar abhalten würde, sich auf den Weg zu machen. Ich rede hier natürlich nicht von Menschen, die verfolgt oder bedroht werden, sondern aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen wollen. In Afrika gibt es eine große wirtschaftliche Dynamik in Dörfern und Städten. Die Menschen haben gute Ideen. Wenn man diese Wirtschaftskraft mit Kapital stärkt, würde man das Selbsthilfepotenzial stärken und oft mehr gewinnen als mit Zuschüssen an den Staat.

    Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung?

    Zum einen die Erneuerung des Bekenntnisses zur Unantastbarkeit des Grundrechtes auf Asyl. Wer verfolgt wird, hat ein Recht darauf, in Deutschland aufgenommen zu werden. Zum anderen eben neue, mutigere Ansätze bei der Bekämpfung von Fluchtursachen und die Berücksichtigung entwicklungspolitischer Aspekte der Migration. Wir benötigen zum Beispiel ein Migrationsgesetz, das qualifizierten Menschen erlaubt, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Deren Geldüberweisungen in die Heimatländer tragen automatisch zu einem großen Teil der dortigen Entwicklung bei. Wir könnten durchaus auch über ein befristetes Aufenthaltsrecht nachdenken, das mit einer qualifizierten Ausbildung verknüpft ist. Menschen können hierherkommen, eine gute Ausbildung machen, dann eine Zeit lang arbeiten und Startkapital für ihre Zukunft in ihrem Heimatland bilden. Wenn diese Menschen dann zurückgehen, verfügen sie über Kenntnisse, die der dortige Arbeitsmarkt dringend nachfragt. Sie können dann sogar selbst Unternehmer werden und damit Arbeitsplätze schaffen und Existenzen sichern.

    Unterschrift Foto: Sid Johan Peruvemba Bild: privat, ©Schwäbische Zeitung