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    In wenigen Jahren hat sich der gebürtige Afghane Gul Sherzai in Biberach eingelebt

    Biberach, 21.01.2016 (Andreas Wagner, ©Schwäbische Zeitung)

    Biberach sz
    Was Flüchtlinge momentan auf dem Weg nach Europa mitmachen, kennt Gul Sherzai aus eigener Erfahrung. Er kam vor fast sieben Jahren nach Deutschland, geflohen aus Afghanistan und mit der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Heute ist der 26-Jährige heimisch in Biberach, hat die deutsche Staatsbürgerschaft und erhielt kürzlich vom Landkreis den Ehrenamtspreis für sein Engagement in der Flüchtlingsarbeit. Er gilt inzwischen vielen als Vorbild für eine gelungene Integration.

    Das Datum 25. Mai 2009 vergisst Gul Sherzai nicht mehr. Es war der Tag, als er in Biberach ankam, nachdem er mehr als ein halbes Jahr zuvor von Pakistan aus nach Europa aufgebrochen war. Schon 2007 hatte er seine Heimatstadt Jalalabad in der ostafghanischen Provinz Nangarhar verlassen, weil „ich in Pakistan meinen Platz finden wollte“. Doch sicher war das Leben auch dort nicht, schon gar nicht nach der Ermordung der pakistanischen Oppositionsführerin Benazir Bhutto. Sherzai, dessen Vater in Afghanistan politisch aktiv und vor mehr als zehn Jahren bei einem Attentat ums Leben gekommen war, brach auf – wie Tausende nach ihm. Von der Türkei über das Mittelmeer nach Italien, weiter nach Frankreich und ins belgische Brüssel. „Ich habe alles erlebt, was die Flüchtlinge jetzt auch mitmachen. Es ist ein Alptraum“, sagt er.

    Gul Sherzais Ziel war ursprünglich Schweden, wo sein älterer Bruder seit 2004 lebt und beruflich Fuß fasste. Doch als er, von Brüssel kommend, am Kölner Bahnhof in einen Zug nach Hamburg einsteigen wollte, kontrollierte ihn die Polizei. Sherzai hatte keine Papiere, landete auf der Wache und blieb über Nacht in Gewahrsam. Am nächsten Tag erklärte ihm ein Dolmetscher, dass ihm nur die Wahl bleibe zwischen dem Asylantrag in Deutschland und der Rückkehr nach Afghanistan. Er entschied sich für Deutschland. „Der afghanische Dolmetscher hat mich begeistert für dieses Land“, erinnert er sich.

    Über Flüchtlingsaufnahmestellen in Dortmund und Karlsruhe kam er nach Biberach. Die Oberschwaben empfand er anfangs „als eng und zurückhaltend – und ich wollte herausfinden, warum es so ist“. Sherzai zog sich nicht zurück, sondern suchte den Kontakt. Er wollte „in die Gesellschaft reingehen“ und wusste: „Ich muss so schnell wie möglich die Sprache lernen.“

    Anders als heute gab es damals aber nur wenige Deutschkurse. Eineinhalb Stunden pro Woche an der Volkshochschule waren Sherzai zu wenig, er ging regelmäßig in die Bibliothek, um seine Deutschkenntnisse im Selbststudium mit Lehr- und Grammatikbüchern zu verbessern. Ohnehin gab er seinen Tagen eine Struktur: um 5 Uhr aufstehen, dann joggen, frühstücken und anschließend in die Bücherei. „Wenn die Gesellschaft sieht, dass der Wille da ist, dann wird man auch gefördert“, so seine Erfahrung, der es auch anders formuliert: „Ich habe mein Herz geöffnet und die anderen haben mir Türen geöffnet.“

    Längst spricht Sherzai perfekt Deutsch. Er fand in Oberschwaben Bezugspersonen, die ein wenig Ersatz sind für die in der Welt verstreute Familie, er fand Freunde, einen Vollzeitjob als Mitarbeiter eines Unternehmens für technische Qualitätsprüfungen und eine ehrenamtliche Aufgabe, die ihm sehr wichtig ist: Flüchtlingen den Weg in die Gesellschaft zu ebnen, in der er seinen Platz gefunden hat.

    „Integration erleichtert das eigene Leben, aber auch das Zusammenleben der gesamten Gesellschaft“, sagt Sherzai, der sich seit Jahren in der Flüchtlingsarbeit engagiert – über einen mit Biberachern gegründeten Freundeskreis, dann über den noch jungen Verein Interkulturelles Forum für Flüchtlingsarbeit (IFF), dessen stellvertretender Vorsitzender er inzwischen ist.

    In Gesprächen mit Migranten erläutert Sherzai, wie Deutschland tickt, fordert Respekt gegenüber Gesetzen und Werten sowie Menschen anderer Herkunft und Geschlechts. „Hier werden keine Unterschiede gemacht wie in vielen anderen Gesellschaften.“

    Probleme entstünden durch ein Nebeneinander, durch Aufteilung und Ausgrenzung, sagt Sherzai, der so etwas in seiner neuen Heimat nicht erleben will. „Ich habe ein Land verlassen, in dem Gewalt an der Tagesordnung ist, und freue mich, in einem Land zu leben, in dem es friedlich zugeht“, so der 26-Jährige. Doch sei eine friedliche Gesellschaft „kein Geschenk des Himmels“, sondern der Beitrag jedes Einzelnen. „Und ich will meinen Beitrag dazu leisten.“

    Unterschrift Foto: Sherzai Gul kam 2009 nach Biberach und lernte rasch die deutsche Sprache – weil es damals nur wenige Deutschkurse gab, ging er regelmäßig zum Selbststudium in die Stadtbücherei Bild: Andreas Wagner, ©Schwäbische Zeitung