Knapp anderthalb Jahre ist es her, dass sich deutsche und amerikanische Soldaten im August 2021 mit einem Knall aus Afghanistan zurückzogen haben. Die dramatischen Szenen, die sich damals am Flughafen Kabul abspielten, gingen um die Welt. Seitdem wurde der Konflikt jedoch von anderen Krisen überlagert und geriet in Vergessenheit.
Der „ZEIT“-Journalist Wolfgang Bauer ist nach dem Fall Kabuls nach Afghanistan zurückgekehrt, auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum der Westen dort mit seiner Mission gescheitert ist. Im Kloster Schussenried stellte er diese Woche das Ergebnis seiner Recherchen vor, sein Buch „Am Ende der Strasse – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern“. Das Kloster zeigt in den nächsten Monaten einen Teil der Bilder, die der Fotograf Andy Spyra auf dieser Reise gemacht hat, ergänzt durch Texte des „ZEIT“-Journalisten.
Wolfgang Bauer kennt Afghanistan wie kein zweiter. Immer wieder reiste der Reutlinger in den vergangenen 20 Jahren Jahren in das Land, interviewte Bauern, Politiker und Soldaten. Für seine Recherchen für das Buch befuhr er 2021 zusammen mit Spyra und seinem Übersetzer Waheedulla Masoud die afghanische Ring Road, ein 2200 Kilometer langer kreisförmiger Highway, der die wichtigsten Städte des Landes miteinander verbindet.
Das Buch zu schreiben, erzählt Bauer, sei für ihn ein Versuch gewesen, wieder Halt zu finden. In den letzten anderthalb Jahren habe er kaum noch gewusst, wo ihm als Krisenreporter der Kopf stehe, eine Krise folgte auf die nächste. Afghanistan, dass er seit nunmehr 20 Jahren bereise, habe ihn zudem nie losgelassen, es sei eins der schönsten Länder der Welt. Gerade erst kehre er von einer weiteren Reise ins Land zurück, wo er erlebt habe, wie Mädchen, die vor zwei Jahren noch zur Schule gehen durften, nun Teppiche knüpfen müssten, um ihre Familien zu ernähren. Darüber zu berichten, wie es den Menschen in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban gehe, sei enorm wichtig
Eine der eindrücklichsten Begegnungen 2021 sei jene mit einem Kommandeur der lokalen afghanischen Polizei gewesen, sagt Bauer, und zeigt auf ein großformatiges Foto neben sich auf der Bühne. „Dieser Mann war so grausam, dass die Taliban ihn nicht mehr in ihren Reihen haben wollten“, berichtet der Journalist. Die Amerikaner entschieden sich dennoch, mit ihm zu arbeiten und beauftragten ihn, gegen den islamischen Staat zu kämpfen. „Die Terrorherrschaft in seinem Landkreis war so schlimm, dass die Taliban für die Afghanen das kleinere Übel waren. Daher steht dieser Mann symbolisch für so vieles, was schief gelaufen ist“, sagte Bauer.
Mit aus Reutlingen angereist ist an diesem Abend Waheedulla Masoud, der das deutsche Journalisten-Team auf ihrer Reise begleitet hat und eine Zeitlang als Büroleiter der „ZEIT“ in Afghanistan fungiert hatte. Bauer betonte, dass seine Reportagen ohne Masoud nicht möglich gewesen wären. Der 45-Jährige, der dank des Engagements Bauers’ inzwischen mit seiner Familie in Deutschland lebt, erinnert sich ebenfalls noch gut daran, wie viel Angst er vor der Begegnung mit diesem afghanischen Polizisten hatte. Gleich zu Beginn des Treffens habe er die Ausländer gefragt, wen er umbringen solle und wie viel sie dafür zahlen würden. Ein Test, um zu sehen, wie die Ausländer reagieren würden.
Auf Englisch schilderte der Afghane, wie er im Laufe der vergangenen 20 Jahre mit seiner Familie immer wieder nach Pakistan geflohen sei, um dem Terror im eigenen Land zu entkommen. Da er mehrfach als Übersetzer für Ausländer gearbeitet habe, sei nach der Machtübernahme durch die Taliban sein Leben in Gefahr gewesen. Seit er in Deutschland sei, sei es seine größte Freude zu sehen, dass seine Kinder ohne Gefahr zur Schule gehen könnten. „Doch mein Herz blutet, wenn ich an all die anderen afghanischen Mädchen denke, die das jetzt nicht mehr können“, so Masoud.
Danach holte Bauer eine weitere Weggefährtin auf die Bühne, die 21-jährige Moqadasa Mirzad. Da der Vater der jungen Frau ebenfalls mit Ausländern zusammengearbeitet hatte, wurde sie mehrfach das Opfer von brutalen Angriffen. Einmal, schilderte sie, sei sie von einer Gruppe Männer auf dem Nachhauseweg von der Universität überfallen, entführt und mit einem Messer verletzt worden. Damals sei sie erst 17 Jahre alt gewesen und das Erlebte habe sie lange psychisch belastet. „Inzwischen habe ich erkannt, dass nur ich selbst mir helfen kann und dass ich die Kraft finden muss, um anderen afghanischen Frauen ein Vorbild zu sein“, sagte sie auf Englisch. Seit sie in Deutschland lebe, genieße sie es, sich frei bewegen und kleiden zu können, wie sie wolle. Sie spiele Fußball in einem kleinen Verein, lerne Deutsch und werde bald ein Praktikum machen.
Dass die Ausstellung in Bad Schussenried zu sehen ist, ist vor allem Dr. Hans-Otto Dumke zu verdanken, den eine langjährige Freundschaft mit Bauer verbindet. In Zusammenarbeit mit der ökumenischen Migrationsarbeit von Caritas und Diakonie und dem Kloster Schussenried holte er die Ausstellung nach Oberschwaben. Die Sonderausstellung „Am Ende der Straße – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern“ ist bis zum 26. Februar 2023 im Kloster Schussenried zu sehen. Sie steht unter der Schirmherrschaft des Landrats des Kreises Biberach, Mario Glaser. Das Buch mit dem gleichnamigen Titel ist im Suhrkamp Verlag erschienen und ist unter anderem in der Buchhandlung Eulenspiegel in Bad Schussenried erhältlich.
Am 14. Januar 2023 gibt es im Kloster Schussenried einen Vortrag und eine Diskussionsrunde zur aktuellen Situation in Afghanistan. Referent Sadiqu Zartila lebt seit 2015 in Deutschland und wird über die Lage in seiner Heimat berichten. Veranstalter ist die ökumenische Migrationsarbeit im Landkreis Biberach.
Text und Fotos: Katrin Bölstler